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Ruhe im Sturm

24. August 2021

Ein Künstler gab seinen drei Schüler die Aufgabe, jeweils ein Bild zu malen, das in ihren Augen das Thema Ruhe am besten symbolisieren würde. Nach einigen Wochen fleißiger Arbeit kam der erste Lehrling und zeigte sein Gemälde. Darauf abgebildet war ein kleines, weißes Fischerboot, das im Hafen angelegt war. Den Glanz, in den die untergehende Sonne die ruhige See tauchte, hatte er in Pastellfarben so detailgetreu dargestellt, dass der Betrachter die sanften Wogen, die die Planken des Bootes umspülten, nahezu spüren konnte. Gelungen, dachte der Künstler, aber nicht perfekt. Auf dem Bild des zweiten Schülers war eine rot blühende Rosskastanie zu sehen. Im Schatten des großen Baumes lag ein Bauer im saftigen Grün. Er hatte die Arme hinter seinem Kopf verschränkt und schien sich von der harten Arbeit auszuruhen. Das Gemälde wirkte im einfallenden Licht sehr tief und der alte Meister wusste sofort, dass das im Impasto-Stil aufgetragene Öl diesen Effekt hervorrief. Herausragend, flüsterte er unhörbar vor sich hin, aber ich bin immer noch nicht vollends zufrieden. Schließlich kam der dritte Lehrling und präsentierte sein Werk. Es stellte eine erdfarbene Holzhütte auf einer Lichtung dar. Der Himmel war jedoch nicht wie auf den beiden anderen Bildern sonnig und einladend, sondern über und über mit bedrohlichen, dunklen Gewitterwolken übersät. Die Bäume im Hintergrund neigten sich unter der Last des herabfallenden Windes. Hinter einem der Fenster der kleinen Hütte brannte jedoch Licht, eine Familie saß dort an am Tisch. Trotz des draußen tobenden Sturmes war an den Gesichtern nicht etwa Besorgnis abzulesen – sondern ausgelassene Freude und glückliche Zufriedenheit. Jetzt habe ich endlich das perfekte Bild für Ruhe gefunden, rief der Meister verzückt. Genau so etwas hatte ich mir tief im Inneren vorgestellt, ohne es in Worte fassen zu können. 

Der König David war zwar kein Maler, aber ein Autor. Die Bilder, die er gezeichnet hat, sind nicht aus Öl oder Pastell, sondern in Lied- und Textform niedergeschrieben. Aber auch er suchte zeit seines Lebens nach Bildern, Symbolen und Illustrationen für Ruhe. Wenn wir sein Lebenswerk, die Psalmen, zu denen er einen großen Teil beigetragen hat, lesen, so stellen wir schnell fest, dass er nicht die Ruhe erlebte, wie die ersten beiden Lehrlinge sie verstanden hatten. Ich versinke in tiefem Schlamm und habe keinen Stand, ich bin in tiefes Wasser geraten, und die Flut will mich überströmen; ich bin müde von meinem Schreien, meine Kehle ist vertrocknet (Psalm 69, 3-4a). Fremde haben sich gegen mich erhoben, und Gewalttätige trachten mir nach dem Leben; sie haben Gott nicht vor Augen (Psalm 54, 5). Denn ich bin doch den ganzen Tag geplagt worden, und meine Züchtigung war jeden Morgen da! (Psalm 73, 14).

Fischerboote in der Abendsonne oder ein Mittagsschlaf im schattigen Grün? Hätte David solche idyllischen Symbole abseits jeglicher Not in seinen Liedern verarbeitet, so hätte er sich wohl selbst belogen. Und doch erzählt er sehr häufig davon, dass er Ruhe und Beruhigung verspüren darf, obwohl seine Bedrängnisse und Probleme nicht aufhören. Häufig beschreibt er im selben Satz, wie zerschmetternd seine äußeren Umstände gerade sind. Und wenn ich auch wanderte durchs Tal der Todesschatten, so fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir; dein Stecken und dein Stab, die trösten mich (Psalm 23, 4). Manchmal zeigt er, warum er Ruhe haben kann, obwohl es seinen Bedrängern besser zu gehen scheint. Du hast mir Freude in mein Herz gegeben, die größer ist als ihre, wenn sie Korn und Most in Fülle haben (Psalm 4, 8). Denn siehe, die fern von dir sind, gehen ins Verderben; du vertilgst alle, die dir hurerisch die Treue brechen. Mir aber ist die Nähe Gottes köstlich; ich habe GOTT, den Herrn, zu meiner Zuflucht gemacht, um alle deine Werke zu verkünden (Psalm 73, 27-28). Trotz dessen, dass sich seine Lebensumstände häufig nicht zum Besseren wenden, findet er Ruhe. Den Unterschied macht ein Perspektivwechsel, der sich abwendet vom Sturm hin zu seinem Retter, der ihm ewiges Leben gibt. Ich habe den HERRN allezeit vor Augen; weil er zu meiner Rechten ist, wanke ich nicht. Darum freut sich mein Herz, und meine Seele frohlockt; auch mein Fleisch wird sicher ruhen, denn du wirst meine Seele nicht dem Totenreich preisgeben und wirst nicht zulassen, dass dein Getreuer die Verwesung sieht (Psalm 16, 8-10).

Echte Ruhe wird zumeist nicht durch Idylle dargestellt. Nicht durch sanfte und problemlose Umstände. Die Ruhe, die die Bibel unmissverständlich verspricht, ist gekennzeichnet durch Vertrauen auf den, den nichts aus der Ruhe bringen kann. Durch tiefes Wissen um die Kontrolle, die Gott über Gut und Böse hat. Durch einen festen Blick auf den, der in allem das Beste für uns will, auch wenn das Prüfungen bedeutet, durch die wir lernen können, in welchen Bereichen wir noch an uns selbst festhalten und nicht alles in die liebenden Hände Gottes abgegeben haben. Durch tiefes Verlangen nach der himmlischen Herrlichkeit, in die uns der Vater nach Hause bringen will, egal, was es kostet. Es ist eine Ruhe, die wir bekommen, wenn wir nicht länger für uns leben, sondern für die Ziele und die Verherrlichung Gottes.

Dann können wir Ruhe finden in der Trauer, weil wir wissen, dass es Gott ist, der letztendlich Leben gibt und nimmt (Hiob 1, 21). Dann können wir Ruhe finden in Krankheit, Beleidigung, Verhöhnung und Benachteiligung, weil wir wissen, dass Gott in unseren Schwachheiten mächtig wird (2. Korinther 12, 9-10). Dann können wir in der Versuchung Ruhe finden, weil wir wissen, dass Gott immer einen Ausgang schafft (1. Korinther 10, 13). 

Die Ruhe, in die wir beim Vater eingehen werden, wird tatsächlich ohne Sturm sein. Dort fließen keine Tränen mehr. Die Freude wird ewig sein. Heute sind wir ihr wieder einen Tag näher.

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