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Tamar: Sie ist gerechter als ich

26. December 2022

Im Stammbaum von Jesus gibt es so einige hochspannende Persönlichkeiten: Abraham, Isaak, Jakob, David, Salomo. Und doch sind es nicht diese Männer, die sein Geschlechtsregister so faszinierend machen. Könige und große Glaubenshelden als menschliche Vorfahren des Königs der Welt, des fleischgewordenen Sohnes Gottes scheinen standesgemäß. Vielmehr sind es die unerwarteten Menschen, die marginalisierten, die unbeachteten, die abgestempelten, diejenigen, die von anderen und sich selbst aufgegeben wurden, die die Aufzeichnungen über den Stammbaum Jesu so ungewöhnlich und großartig machen. Heute will ich die Geschichte von Tamar erzählen, die in Matthäus 1,3 erwähnt wird. Es ist eine Geschichte, die man vielleicht nicht am Weihnachtsgottesdienst nach der Aufführung des Krippenspiels erzählen wird, von der wir aber heute lernen können – als Gemeindeglieder, als Twitter-Diskutierende, als Familienmenschen, als Christen.

Die Geschichte von Tamar beginnt mit Juda, der drei Kinder mit einer kanaanitische Frau hat. Er sah und nahm sie, nicht einmal ihr Name wird genannt (Genesis 38, 2). Man merkt, dass Juda kein besonders großes Interesse an den Gedanken und Gefühlen der Frauen hat, mit denen er zu tun hat. Er gibt seinem Erstgeborenen Er (sic!) das Mädchen Tamar zur Frau. Doch Er ist böse in den Augen des Herrn und muss sterben – ohne Nachkommen. Wegen des Gebots der Leviratsehe bekommt sein jüngerer Bruder Onan Tamar zu Frau. Doch der hat keine große Lust darauf, seinem Bruder Nachkommen zu erwecken – daher “ließ er es auf die Erde fallen und verderben” (Genesis 38,9). Luther hat hier recht holprig den Begriff umschrieben, den der junge Mann wohl eher unrühmlich für den Akt des coitus interruptus geprägt hat: er onanierte. Auch Onan wird von Gott gerichtet. Und so verspricht Juda der Tamar, ihr seinen jüngsten Sohn zum Mann zu geben, sobald er erwachsen ist.

Was auffällt und auch Gordon Wenham in seinem Kommentar zum 1. Buch Mose bemerkt: Tamar wird die ganze Zeit über wie ein Objekt behandelt. Sie ist passiv. Niemand fragt nach ihren Gefühlen. Sie ist letztlich nur da, um Kinder zur Welt zu bringen. Bis zum Vers 14 sind die einzigen Verben, die ihr Handeln beschreiben, gehen und bleiben. Sie ist gehorsam.

Nachdem viele Tage vergangen sind (Vers 12), zeigt sich, dass Juda entweder vergessen hat, für Tamar zu sorgen, oder er aus Angst, Shelah könnte wie seine Brüder sterben, ihn bewusst nicht mit ihr verheiratet. Wie es ihr als marginalisierte Witwe ohne Kinder geht, scheint ihm nicht so wichtig zu sein. Doch nun ergreift Tamar Initiative: Sie verkleidet sich wie eine Prostituierte und verführt ihren Schwiegervater Juda, der nicht weiß, mit wem er da schläft. Als Sicherheit lässt sie sich von ihm Siegelring, Schnur und Stab geben. Dass Tamar schwanger wird, bleibt nicht lange unbemerkt: Nach drei Monaten berichtet man Juda davon, dass seine Schwiegertochter Hurerei betrieben hätte und ein Kind erwartet. Juda urteilt schnell: Führt sie hinaus, damit sie verbrannt werde! (Genesis 38,24). Doch Tamar hatte sich ja rückversichert: Die persönlichen Gegenstände ihres Schwiegervaters, die sie noch bei sich hatte, zeigen, wer mit ihr im Bett war. Juda muss anerkennen: Sie ist gerechter als ich (Vers 26).

Ganz ehrlich: Das ist eine schwierige Aussage. Unschuldig sind beide nicht. Tamar mag aus edleren Motiven gehandelt haben als Juda, der sein Versprechen nicht gehalten hat, aber letztlich ist Prostitution Sünde und Inzest macht sie nur noch schwerwiegender. Juda wusste im Gegensatz zu seiner Schwiegertochter nicht, mit wem er da verkehrt, aber er macht Gebrauch von Prostitution und handelt aus seiner Lust heraus.

Doch trotzdem zeigt uns diese Geschichte etwas Wunderbares. Der Stammbaum von Jesus reflektiert diejenigen Menschen, für die er auf die Erde gekommen ist: Ausgenutzte, übergangene Menschen wie für die, die sie ausnutzen und übergehen. Sündige Menschen, die gegen Gottes Gebote verstoßen. Jesus beachtet marginalisierte Randgruppen, er sieht sie, gibt ihnen einen Namen und stirbt für sie. Jesus kommt in aller Schwachheit und nimmt einen verletzbaren Leib an, um sich in die Nähe von schwachen und verletzbaren Menschen zu begeben. Sein Erkennungsmerkmal waren nicht königliche Gewänder, kein Palast, kein Bett aus Samt, sondern Windeln (Lukas 2,12). Bischof Ambrosius von Mailand schreibt dazu: “Das Jesuskind wurde eingewickelt in Windeln, damit du herausgewickelt werden könntest aus den Net­zen des Todes.”

Und zweitens: Wie oft verurteilen wir Mitmenschen, besonders andere Christen, so schnell wie Juda in Vers 24. Gnadenlos und unbarmherzig sind wir schnell zum Reden und langsam zum Hören. Wir unterstellen dem anderen die schlechtesten Intentionen. Und dabei spielt es doch keine Rolle, ob er mit seiner Aussage richtig oder falsch liegt: Hat er recht, greift er aber unsere Position an, verurteilen wir; hat er Unrecht, so gewähren wir keinen Vertrauensvorschuss und verurteilen vorschnell. Wäre es nicht wunderbar, würden wir die Position von Juda in Vers 26 und eine Herzenshaltung einnehmen, die vom anderen sagt: Er ist gerechter als ich, auch wenn es sich wie in Genesis 38 um eine Situation handelt, in der nicht klar ist, wer in dieser konkreten Sache recht hat und wer falsch liegt. Wie sehr würde es uns helfen, uns gemeinsam mit dem anderen an Gottes Maßstab zu stellen und wieder zu bemerken, dass wir alle beide bei weitem zu kurz kommen – und zwar so sehr, dass Gott selbst für uns beide auf die Welt kommen und unter Spott und Hohn an einem Holzkreuz sterben musste.

Welche Kraft eine solche Herzenshaltung hat, erkennt man, wenn man sich klarmacht, was wäre, wenn Juda bei seinem ersten Urteil geblieben wäre: Tamar wäre gestorben und mit ihr Perez in ihrem Bauch. Damit wäre der Stammbaum von Jesus nicht mehr möglich gewesen. Lasst uns unser Miteinander nicht absolut leben, sondern relativ zu Gottes Heiligkeit, aber auch seiner großen Gnade, die sich ganz besonders in den kaputten Menschen, den schwachen und verlorenen Schafen zeigt, für die er auf die Welt kam.

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