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Ich habe dir einen Namen gegeben

1. December 2022

Römer 16 ist im wohl spannendsten neutestamentlichen Brief das Kapitel, das im wahrsten Sinne des Wortes oft hinten herunterfällt. Dabei ist es voll vom Evangelium, nicht weniger als der Rest des Römerbriefs. Paulus grüßt eine ganze Reihe von Menschen, die entweder den Grundstein für den Glauben in einer Stadt gelegt haben (V. 5), die ihn im Leid der Gefangenschaft begleitet und getröstet haben (V. 7) oder die für ihn sogar “ihren eigenen Hals hingehalten haben” (V. 4)! Männer und Frauen werden gleichermaßen in einer langen Liste von Paulus gelobt, gesegnet und ermutigt. Man merkt ihm an, wie viel Liebe und Stolz er für seine Geschwister im Glauben hat.

Aber inmitten dieses Briefschlusses sticht für mich ein Vers ganz besonders heraus. Er mag sehr unscheinbar daherkommen, aber bei genauem Hinsehen hat er die Kraft, eine wundervolle Gesamtzusammenfassung der biblischen Botschaft zu sein. Es ist Vers 22: “Ich, Tertius, der ich den Brief niedergeschrieben habe, grüße euch im Herrn.” Ich verstehe, wenn du gerade die Stirn runzelst. Was mag an diesem Satz so geheimnisvoll sein?

Andy Crouch hat darauf hingewiesen, dass in der römischen Gesellschaft Sklaven nicht wie Personen angesehen wurden. Man maß ihnen so wenig Würde zu, dass man ihnen, wenn sie in einen Haushalt hineingeboren wurden, keinen Namen gab. Stattdessen bekamen neugeborene Sklaven, deren Leben für einen Kreislauf aus harter Arbeit, bitterer Undankbarkeit und würdeloser Behandlung bestimmt war, nur eine Nummer. Primus, Secundus, Tertius und Quartus. Wenn ein Herr vier Sklavenjungen besaß, war es also nicht ungewöhnlich, dass diese vier genau so hießen. Und da wird es spannend. “Ich, Tertius“. Der Schreiber, dem Paulus seinen Brief diktiert hat, war also – sehr wahrscheinlich – ein Sklave. Wir wissen nicht, ob er frei war oder immer noch einem Herrn untergeben, aber für Paulus spielt das keine Rolle. Es ist, als hatte Paulus ihn angesehen und zu ihm gesagt: “Tertius, ich bin fertig mit meinen Grüßen. Jetzt darfst du auch selbst etwas schreiben!”

Ich kann mir nur vorstellen, wie Tertius sich gefühlt haben muss. Endlich ist er jemand, dem man erlaubt, etwas zu tun, das er von Herzen möchte, anstatt ihm nur barsch einen Befehl zu geben. Endlich ist sein Name nicht einfach nur eine Nummer, die eins mehr wäre, wäre er später zur Welt gekommen, sondern ein richtiger Name, hinter dem eine Person mit Würde, Gedanken und Gefühlen steht. Vers 23 unterstreicht das: Dort grüßt Quartus. Vielleicht war er der kleine Bruder von Tertius. Aber auch er ist nicht mehr Quartus, der Sklave. Nicht mehr Quartus, die Nummer. Quartus, den man ersetzen kann, wenn er nicht mehr arbeitsfähig ist. Nein, es ist “Quartus, der Bruder“. Wow, oder? Wie gesagt, wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob diese Männer in Freiheit leben dürfen. Aber für Paulus und die anderen ist das nicht entscheidend dafür, wie sie sie ansehen. Sie schauen nicht auf sie herab. Sie grüßen sie liebevoll, sorgen sich um ihr Wohlbefinden und äußern Freude darüber, sie hoffentlich bald besuchen zu können. Sie freuen sich, einen Brief von ihnen zu bekommen. “Hört mal, Tertius und Quartus, unsere Brüder, überreichen euch einen herzlichen Gruß. Wir sollen euch von ihnen küssen und euch erzählen, was Jesus an ihnen getan hat!” Für Paulus sind diese Männer “geliebt und ersehnt”, ihre “Freude und Krone” (Philipper 4, 1). Vom Arbeitstier, das jeder ausnutzt, zum Bruder, auf den man stolz ist.

Es begeistert mich, welche Kraft das Evangelium hat. Der Kreuzestod und die Auferstehung von Jesus Christus machen aus geistlichen Sklaven Kinder Gottes. Aber nicht nur in der vertikalen Ebene ändert sich alles, sondern auch in der Beziehung der Erretteten zueinander wird alles Bisherige auf den Kopf gestellt. “Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“, schreibt Paulus in Galater 3, 28. Wer Sklave ist, bekommt Würde, Wert und Persönlichkeit zugesprochen. Er schmeckt vielleicht zum ersten Mal, welche Bedeutung das Wort Liebe hat. Die barschen Anweisungen oder die womöglich auch physische Gewalt sind nicht mehr das, was ihm seinen Wert absprechen. Die Worte Gottes sind ihm gewichtiger. Und gleichzeitig wird er Teil der Gemeinde, einer Gemeinschaft, in der man sich mit liebevoller Zuneigung begegnet, weil sie ein Ort ist, an dem jeder sich darüber im Klaren ist, dass er Sünder ist, sein Status vor Gott aber trotzdem “heiliges, geliebtes Kind” lautet.

Ja, unsere Gemeinden weichen leider sehr oft von diesem Ideal ab. Aber Jesus verspricht in Matthäus 16, 18, dass die Pforten des Totenreiches sie nicht überwinden können. Er umgibt und verteidigt sie. In ihr und durch sie baut er sein Reich. In ihr werden Nummern zu Namen. Sklaven zu Brüdern. Abhängige zu Freien. Verstoßene zu Angenommenen. Verletzte zu Geheilten. Gebrochene zu Aufgerichteten. Geächtete zu Geliebten. Fremde zu Kindern.

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1 Comment

  • Reply Sergej Pauli 5. December 2022 at 9:28

    Guess who’s back!!!
    Schön, dass du aus dem Honey-Moon zurück auf die Tastatur gekommen bist.
    Preach it!

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