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Orpheus, Odysseus und die Sirenen

4. December 2022

Der antike griechische Poet Homer erzählt in seiner Odyssee die Geschichte der Sirenen. Die Sirenen waren Fabelwesen, eine Mischung aus Mensch, Fisch und Vogel, die vor allem eines kennzeichnete: Ihr Gesang war betörend. So betörend, dass die Sirenen, die auf einer Insel beheimatet waren, ihn zu einem bösartigen Schachzug einsetzten: Sie lockten damit vorbeifahrende Seefahrer an und machten sie so zu ihrer Beute. Sie sangen so bezaubernd schön, dass niemand, der das hörte, widerstehen konnte. Und so waren alle Seeleute, die auf ihrer Reise in die Nähe der Sirenen-Insel mussten, der List der Sängerinnen schutzlos ausgeliefert. Viele tapfere Männer und heldenhafte Krieger waren überzeugt, die ersten zu sein, die dem Gesang widerstehen konnten. Doch nie schaffte es ein Schiff an der Insel vorbei. Homer schreibt im XII. Buch: “Wenn jemand unvorsichtigerweise zu nahe herankommt und den Gesang der Sirenen hört, werden ihn seine Frau und seine Kinder nie wieder zu Hause begrüßen, denn sie sitzen auf einer grünen Wiese und trällern ihn mit der Süße ihres Gesangs zu Tode.

Schaurig. Doch griechische Mythologie wäre nicht griechische Mythologie, wenn es nicht doch einen Helden gäbe, der stärker wäre als die bösen Fabelwesen. In dieser Geschichte gibt es gleich zwei davon. Zum einen ist da Odysseus. Glauben wir Homer, so war Odysseus besessen davon, den verlockenden Gesang der Sirenen zu hören und dem Drang widerstehen zu können, die Insel anzusteuern. Um das zu schaffen, befragte er die Zauberin Kirke, die ihm riet, die Ohren seiner Gefährten auf dem Schiff mit Wachs zu verschließen. Er selbst solle sich von seinen Männern an den Mast binden lassen. Gesagt, getan. Odysseus machte sich auf den Weg und hielt sich an den Rat der Kirke. Als sie in die Nähe der Insel kamen, begannen die Sirenen bald, ihre betörenden Lieder zu singen. Es kam, wie es zu erwarten war: Odysseus, ganz außer sich, versuchte, sich loszureißen. Doch die Matrosen, die wegen des Wachses nichts hören konnten, hielten sich an ihre Anweisung und zerrten die Riemen, die Odysseus hielten, noch fester zu, bis sie es an der Insel vorbei und außer Hörweite geschafft hatten.

Orpheus, der gemeinsam mit den Argonauten losfuhr, um den unwiderstehlichen Klängen zu widerstehen, entschied sich, anders an die Sache heranzugehen. Er hielt nichts davon, sich festzubinden. Apollonius von Rhodos erzählt, dass Orpheus ein begnadeter Sänger war, dessen Gesang noch schöner war als der der Sirenen. Und so begann er, als die Insel in Sichtweite war, zu singen. Die Argonauten und alle Seefahrer auf dem Schiff hörten ihm so gebannt zu, dass sie alles um sich herum vergaßen. Den Wind, die Wellen, das Gewitter. Und vor allem nahmen sie die Lieder der Sirenen nicht wahr, weil sie etwas viel besseres direkt bei sich hatten: Die wunderschöne Stimme von Orpheus, der keine bösen Intentionen hegte, sondern für die Rettung und den Schutz seiner Männer sang.

Ich finde, dass diese Sage ein großartiges Bild dafür ist, wie wir Christen Versuchungen widerstehen können. Ich frage mich, ob wir es nicht ganz oft versuchen wie Odysseus. Wir widerstehen krampfhaft, beißen auf die Zähne – und schaffen es womöglich, irgendwie frei zu werden. Vielleicht sind wir erfolgreich bei unserem Versuch, an der Insel der Sünde vorbeizufahren. Unsere Methode mag bisweilen funktionieren. Wir stopfen unsere Ohren zu, verbinden uns die Augen – und wir schaffen es, den Begierden zu entfliehen. Irgendwie. Aber ist es nicht so, dass diese Art, unseren Lüsten zu entfliehen, selbst wenn sie erfolgreich ist, nichts als reinen Moralismus darstellt? Wir reden uns ein, stark genug zu sein. Wir sind aktiv. Wir siegen. Wir sind gute Seefahrer, auf die Gott stolz sein muss.

Aber genau das scheint Jesus in Matthäus 12, 43-45 zu beschreiben: “Wenn aber der unreine Geist von dem Menschen ausgefahren ist, so durchzieht er wasserlose Stätten und sucht Ruhe und findet sie nicht. Dann spricht er: Ich will in mein Haus zurückkehren, aus dem ich gegangen bin. Und wenn er kommt, findet er es leer, gesäubert und geschmückt. Dann geht er hin und nimmt sieben andere Geister mit sich, die bösartiger sind als er; und sie ziehen ein und wohnen dort, und es wird zuletzt mit diesem Menschen schlimmer als zuerst. So wird es auch sein mit diesem bösen Geschlecht!” Was ist das Problem des Hausbesitzers? Sollten wir uns nicht mitfreuen, wenn jemand frei wird? Wenn jemandes Herz sauber, ausgekehrt und geschmückt ist?

Das Problem ist, dass es leer ist. Wir neigen so schnell dazu, uns der Leere zu erfreuen. Wir sind in der Lage, eine Sünde zu lassen und einer Versuchung zu widerstehen und freuen uns an unserer sauberen Moral. Wie Odysseus. Aber Jesus zeigt uns mit eindringlichen Worten, dass unsere Sicherheit sehr wacklig ist. Die Leere, die wir für etwas Gutes halten, wird schnell anderweitig gefüllt – und es wird zuletzt mit diesem Menschen schlimmer als zuerst.

Wenn Jesus zu uns sagt, dass wir ihm nachfolgen sollen, dann heißt das nicht, dass er uns an einen Mast bindet und uns die stürmischen Weltmeere voller Versuchung, Sünde und Tod durchfahren lässt. Sein Ziel ist nicht, auf alles in dieser Welt zu zeigen und zu sagen: Das kriegst du nicht, weil du den Weg mit mir gewählt hast. Selbst schuld! Sein Ziel ist es nicht, uns für unser Streben nach Glück zu bestrafen und dieses zu einem schmerzhaften Stachel in der Brust zu machen, das wir nur durch festes Auf-die-Zähne-Beißen überstehen können.

Ja, das Schiff ist real. Versuchungen und Sünde sind real. Unser Streben nach Erfüllung und Glück ist real. Aber Nachfolge bedeutet, dass Jesus wie Orpheus den Menschen an Bord etwas viel Besseres bietet als das, was es draußen gibt. Er ist so schön, seine Worte der Liebe sind so tief, dass wir nichts anderes wahrnehmen, wenn wir bereit sind, uns von ihm füllen zu lassen. Evangelium ist nicht Absenz, sondern Existenz. Evangelium wird nicht durch Leere erlebt, sondern durch Fülle. Evangelium bedeutet nicht einfach, von etwas wegzusehen, sondern auf jemanden zu schauen: Jesus, in dem wir Überfluss und wahres Glück finden.

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