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Bete, bis du betest

18. November 2021

Vor ungefähr 200 Jahren schrieb Robert Murray M’Cheyne Worte auf, die mich sehr nachdenklich machen: “Was ein Mensch allein und auf den Knien vor Gott ist, das ist er, und nicht mehr.” Ich habe mich gefragt: wenn das stimmt – was bin ich dann?

Wenn ich darüber nachdenke, wie abgelenkt und unkonzentriert mein Gebet so oft ist – kann es sein, dass ich in meinem Glaubensleben häufig ohne Fokus bin? Dass ich meinen Haltepunkt, mein Zentrum, mein Ziel aus den Augen und mich im undurchsichtigen Nebelmeer angepasster Identitätslosigkeit verliere? Was sagt es über mich aus, wenn ich scheinbar vergessen habe, dass ich mit dem lebendigen Gott rede, dass diese eigentlich erstaunliche Wahrheit nichts mit mir macht? Wenn ich mir bewusst mache, wie viel ich über Gemeindearbeit, Predigen und Dienst in der Jugend gelernt habe, wie viele Bücher ich gelesen und Blogartikel geschrieben habe, aber echte, tiefe Freude am Gespräche mit meinem Vater nur trüben Seltenheitscharakter hat – kann es sein, dass in meinem Leben Glaube zur Formalität und Gebet zur Pflicht geworden ist? Wann war das letzte Mal, dass ich mich nach einer langen Nacht der Fürbitte gefühlt habe wie Jakob, der mit Gott gerungen hat, gesegnet wurde und den Ring mit einem neuen Namen verlassen hat? Was sagt es über mich aus, wenn ich einige Zeit lang spreche, ich mich aber immer wieder dabei erwische, dass ich mir gar nicht voll und ganz bewusst bin, welche Worte gerade meine Lippen verlassen haben und wie ich sie gemeint habe? Wenn zumeist unberechtigtes Sorgen, umherschweifende Gedanken, sinnfreie Unterhaltung und vergebliche Versuche, Rat am falschen Ende zu finden, den größeren Teil meiner Zeit einnehmen, das größere Stück meiner Energie verbrauchen, den größeren Faktor für meine Zufriedenheit darstellen, ich mir letztlich aber doch der Leere bewusst bin, die nach einem geschafften Tag zurückbleibt?

J. I. Packer bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: “Ich glaube, dass das Gebet das geistige Maß des Menschen ist, wie nichts anderes, so dass die Art und Weise, wie wir beten, die wichtigste Frage ist, der wir uns jemals stellen können.” Unser Gebetsleben ist ein gutes, ehrliches und mitunter hammerhartes Spiegelbild unserer geistlichen Beschaffenheit. Hebräer 10, 19-22 macht klar, dass wir durch den Mittler Jesus uneingeschränkten, freien und frohen Zugang zu Gott haben – und doch ist es oft so hart. Warum? Der überragende Anteil von Gebet ist Glaube und nicht Sehen. Wir sehen aber Stress, Termine, Pläne, aussichtslose Aufgaben, Trauer, Verzweiflung, kurzfristige, aber letztlich doch Freuden ohne Fundament. Es kostet dann Vertrauen und Demut, dem Vater all das abzugeben – und es nicht wieder mitzunehmen, wenn wir uns von den Knien erheben.

Die Puritaner haben einen Spruch geprägt, der mir Hoffnung macht: Bete, bis du betest. Ich wünsche mir aus dem Tiefsten meines Daseins, in einer innigen Gebetsbeziehung mit meinem Herrn zu leben, das Gespräch mit ihm zu einem begeisterten Normalzustand zu machen, ohne dabei in Fokus-freie Routine zu verfallen. Abzugeben, was im Laufe des Tages in meine Hände gefallen ist. Innen tief mit Gott verbunden und Außen authentisch und echt zu sein. Und ich frage mich, ob wir mehr dorthin kommen könnten, wenn wir Paulus’ Worte nicht als entweder kurzsichtig oder unmöglich abtun, wenn er sagt, dass wir “ohne Unterlass” beten sollen (1. Thessalonicher 5, 17). Was ist, wenn er damit einen Lebensstil meint, dessen Standardeinstellung bei allem ist, es konzentriert, ehrlich, demütig und vertrauensvoll dem Vater abzugeben? Wenn er meint, dass mich tägliches Trainieren, entgegen meines menschlichen Drangs, jeden Tag weiter auf dem Weg hin zu Freude und Ruhe im Gebet bringt? Wenn er mir damit Mut zuspricht, mehrmals täglich, bewusst und lange mit meinem Gott zu reden, auch wenn es mir nicht leichtfällt, weil das das Potenzial hat, mein Herz zu formen, sodass es sich nicht mehr gegen echtes Gebet wehrt und jegliche Formalität schwindet?

D. A. Carson erklärt in seinem Buch Praying with Paul anschaulich, was die Puritaner meinten, als sie sagten, Bete, bis du betest.Sie meinen damit, dass Christen in einer einzigen Sitzung lange genug und ehrlich genug beten sollten, um das Gefühl des Formalismus und der Unwirklichkeit zu überwinden, das mit nicht wenigen Gebeten einhergeht. Wir sind besonders anfällig für solche Gefühle, wenn wir nur ein paar Minuten lang beten, weil wir es eilig haben, eine bloße Pflicht zu erfüllen. Um in den Geist des Gebets einzutreten, müssen wir eine Weile dabei bleiben. Wenn wir ‘beten, bis wir beten’, kommen wir schließlich dazu, uns an Gottes Gegenwart zu erfreuen, in seiner Liebe zu ruhen und seinen Willen zu schätzen. Selbst im dunklen oder gequälten Gebet wissen wir irgendwie, dass wir es mit Gott zu tun haben.

Lass uns dranbleiben. Lass uns kämpfen gegen alles, was Gebet klein und schwach machen will. Lass uns all unsere Sorge auf Gott werfen. Lass uns unsere tiefe Freude in Jesus finden, weil er dadurch geehrt wird. Lass uns beten, bis wir beten.

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  • Reply Bete, bis du betest. | Bibelkreis München 4. February 2022 at 20:57

    […] D. A. Carson erklärt in seinem Buch Praying with Paul anschaulich, was die Puritaner meinten, als sie sagten, Bete, bis du betest. “Sie meinen damit, dass Christen in einer einzigen Sitzung lange genug und ehrlich genug beten sollten, um das Gefühl des Formalismus und der Unwirklichkeit zu überwinden, das mit nicht wenigen Gebeten einhergeht. Wir sind besonders anfällig für solche Gefühle, wenn wir nur ein paar Minuten lang beten, weil wir es eilig haben, eine bloße Pflicht zu erfüllen. Um in den Geist des Gebets einzutreten, müssen wir eine Weile dabei bleiben. Wenn wir ‘beten, bis wir beten’, kommen wir schließlich dazu, uns an Gottes Gegenwart zu erfreuen, in seiner Liebe zu ruhen und seinen Willen zu schätzen. Selbst im dunklen oder gequälten Gebet wissen wir irgendwie, dass wir es mit Gott zu tun haben.“ Lass uns dranbleiben. Lass uns kämpfen gegen alles, was Gebet klein und schwach machen will. Lass uns all unsere Sorge auf Gott werfen. Lass uns unsere tiefe Freude in Jesus finden, weil er dadurch geehrt wird. Lass uns beten, bis wir beten.https://philemonblog.de/?p=8964 […]

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