Esther

Identitätskrise

27. November 2021

Als Mordechai von dem tödlichen Plan gegen die Juden erfährt, reagiert er verständlich, und auch dem Rest des Volkes geht es genauso wie ihm: Als nun Mordechai alles erfuhr, was geschehen war, da zerriss Mordechai seine Kleider und kleidete sich in Sack und Asche und ging in die Stadt hinein und klagte laut und bitterlich. (Esther 4, 1) Die junge Esther am Hof des Königs erfährt davon und ihre erste Reaktion ist es, neue Kleidung zu schicken, anstatt dem Problem ihres Ziehvaters auf den Grund zu gehen. Erst als Mordechai das ablehnt, schickt sie Hatach, ihren Eunuchen, um mit ihm zu kommunizieren:

Und er kam bis vor das Tor des Königs; denn es durfte niemand zum Tor des Königs eingehen, der in Sacktuch gekleidet war. Auch in allen Provinzen, wo immer das Wort und Gebot des Königs hinkam, war unter den Juden große Trauer und Fasten und Weinen und Wehklage, und viele lagen auf Sacktuch und in der Asche. Und die Mägde der Esther und ihre Kämmerer kamen und sagten es ihr; und die Königin erschrak sehr. Und sie sandte Kleider, damit Mordechai sie anziehe und das Sacktuch ablege. Aber er nahm sie nicht an. Da rief Esther den Hatach, einen Kämmerer des Königs, den er zu ihrem Dienst bestimmt hatte, und gab ihm Befehl, bei Mordechai in Erfahrung zu bringen, was das bedeute und warum es geschehe. (Esther 4, 2-5)

Es wird total deutlich, wie abgeschottet Esther ist. Wahrscheinlich trauert gerade jeder einzelne Jude von Indien bis nach Äthiopien über sein Schicksal – und Ester ist wohl die Einzige, die absolut gar nichts mitbekommen hat. Trauermeldungen und Nachrichten über das Leid und das Gericht scheinen im Palast der Freude verboten zu sein. Und wir fragen uns: Wer ist Esther? Was ist ihre Identität? Ist sie Jüdin? Ist sie Perserin? Ist sie Beauty-Queen? Sie ist die einzige Person mit zwei Namen. Ihre jüdische Identität als Hadassa hat sie dazu gebracht, Mordechai gehorsam zu sein, und paradoxerweise ist sie dadurch in ihre persische Identität als Esther gelangt. Eine echte Identitätskrise. Wer ist Esther?

Wahrscheinlich weiß sie es selbst nicht so genau, aber ich habe das Gefühl, dass wir oft genauso in einem Zustand leben, in dem wir uns selbst nicht so ganz klar darüber sind, wer wir sind. Wir leben inmitten einer Welt, die sich scheinbar komplett von ihrem Schöpfer entfernt hat, mitten in Susa, mitten in Persien. Und wie sehr stehen wir in der Gefahr, von allem, was Gott sagt und tut, so entfremdet zu werden. Alle Worte Gottes, die der Liebe und des Gerichts werden abgedämpft. Gottes eindringliche Botschaften, seine Warnungen sind verboten. Keiner will sie hören. Seine Worte des ewigen Lebens werden abgeschaltet. Wer sind wir inmitten des Ganzen? Was ist unsere Identität?

Mordechai berichtet ihr schließlich, was bevorsteht. Im Gegensatz zu Kapitel 2 ist er jetzt nicht in der Lage, etwas am Mordplan zu ändern. Esther muss vor den König treten und ihn davon überzeugen, dass das eine ganz dumme Idee ist. (Esther 4, 6-8) Esther scheint noch nicht überzeugt. Ihr scheint die Gefahr noch nicht ganz bewusst zu sein. Es kostet sie etwas. Wenn der König sie nicht zu sich ruft, sie doch erscheint und er sein Zepter nicht hebt, wars das mit ihr. Und dass ihr Ehemann sie seit 30 Tagen nicht zu sich gerufen hat, ist auch kein gutes Zeichen, da er die Nächte sicherlich nicht allein verbracht hat. (Esther 4, 9-11) Mordechai muss ihr noch die Dringlichkeit klarmachen: Esther, glaub nicht, dass du sicher bist, nur weil du isoliert und bequem in deinem Palast sitzt! Wenn die anderen getötet werden, wirst du wahrscheinlich auch nicht davonkommen. Wenn du dich nicht für dein Volk einsetzt, wird von woanders her Rettung kommen und du wirst verurteilt werden, weil du nichts unternommen hast, obwohl du die Gelegenheit hattest. Schau, du bist sicher nicht zufällig in dieser Position. (Esther 4, 12-14)

Für uns als Leser ist es irgendwie klar. Wir wissen, wie alles ausgeht. Klar, Gott hat Esther zur Königin gemacht, um durch sie als Werkzeug sein Volk vor der Katastrophe zu bewahren. Aber die Frage ist für Esther eine echte Frage, die in diesem Moment keine klare Antwort hat: eine moralisch sehr fragwürdige Ehe zu einem Heiden, sechs Jahre lang ein verstecktes und abgeschottetes Leben in einer totalen Identitätskrise? So jemanden wie mich will Gott gebrauchen? Vielleicht kennt ihr diese Frage. Und wir fragen uns weiter: Okay, Gott taucht bisher nicht auf. Das Ganze könnte immer noch irgendeine antike Erzählung sein, die nichts mit der Bibel zu tun hat. Jetzt redet Mordechai schon über jemanden, von dem die Hilfe kommen könnte. Jetzt muss doch endlich der Moment kommen, in dem Gott zum ersten Mal genannt wird. Aber nein – irgendwie bleibt das Buch immer noch stumm darüber. Irgendwie scheint Gott immer noch zu schweigen.

Esther steht jetzt vor einer Entscheidung. Überleg dir das mal. Du führst jahrelang ein Leben in den unscharfen, nebelhaften Schatten zweier Welten. Du bist irgendwie nichts Ganzes und nichts Halbes. Du lebst wie ein Undercover-Gläubiger. In dir drin fühlst du dich irgendwie schon jüdisch, aber äußerlich siehst du aus wie eine Perserin, du isst und trinkst die gleichen Sachen wie Perser, du redest wie die Perser, du bist mit einem Perser verheiratet, du machst tagtäglich die gleichen Sachen wie die Perser und mit dem einzigen Juden, den du kennst, kannst du nur über einen Boten kommunizieren. Und schlagartig wirst du vor die Frage gestellt: wie soll’s weitergehen? So kannst du nicht weitermachen. Entweder du privatisierst deinen Glauben noch einen Schritt weiter. Du kündigst endgültig deinen jüdischen Pass und vertraust darauf, dass irgendjemand diese Leute, die du früher mal entfernt gekannt hast, schon retten wird. Auch wenn dich das den Preis kostet, deinen Glauben über Bord zu schmeißen – so wirklich hast du ihn ja eh nicht gelebt. Nur weil dieser Mordechai das wollte, hast du irgendwie geglaubt. Oder du identifizierst dich endlich öffentlich, vor allen – vor denen, die sich das wünschen wie vor denen, die dein Volk hassen – mit den Juden, auch wenn es dich deinen Kopf kosten kann. Eins von beiden, aber beides zusammen geht von einem Augenblick zum anderen nicht mehr länger. Du musst dich entscheiden. Und für Esther ist das tatsächlich ein Dilemma: beide Alternativen enden recht wahrscheinlich mit ihrem Kopf auf einem Spieß. Entweder am 13. Tag des Monats Nisan in einer dunklen Nebelnacht von irgendeinem persischen Söldner, der dich damals eigentlich heiraten wollte und jetzt endlich Rache nehmen darf, also wenig glorreich, oder in der nächsten Woche auf dem städtischen Hinrichtungsplatz, wahrscheinlicher noch weniger glorreich. Zwei Optionen – und beide sind recht hoffnungslos.

Und vielleicht ist das ein sehr aktuelles Thema. Vielleicht kennst du das auch. Vielleicht kennst du diese Identitätskrise auch. Alles zerrt an dir. Auf der einen Seite sind da deine Freunde, deine Schulkameraden, deine Kommilitonen, deine Arbeitskollegen, mit denen eigentlich ganz gut arrangiert hast. Keiner von denen weiß, dass du sonntags in die Kirche gehst; wenn in der Pause abfällig über Gott geredet wird, schweigst du. Vielleicht zerren Schönheitsideale an dir, die viel Zeit erfordern, dich unsicher machen und runterziehen, wenn du sie nicht erfüllst. Auf der einen Seite sind da die Erwartungen deiner Umgebung an dich, die sich häufig nicht mit dem vereinbaren lassen, was die Bibel sagt. Und auf der anderen Seite zerren die Erwartungen deiner Eltern an dir, die sich ein gläubiges Kind erhoffen. Vielleicht die Erwartungen deiner Ältesten, deiner Gemeinde, deiner gläubigen Freunde. Vielleicht bist du tief im Inneren auch von einigen Dingen überzeugt, die Gott in der Bibel sagt, vielleicht ist deine Theologie fest und du erwartest selbst von dir, dass du Versuchungen widerstehst, Gelegenheiten nutzt, dich endlich als Christ zu outen. Aber obwohl deine Theologie stark ist, sieht dein Alltag meist anders aus.

Und manchmal führt das dazu, dass du in der gleichen, verschwommenen Identitätskrise steckst, die dich förmlich zerreißt. Jeder erwartet etwas von dir und dir ist klar, dass es so eigentlich nicht weitergeht. Vielleicht kommt noch irgendein Schlüsselereignis dazu, das dir die Frage stellt, wer dein Halt im Sturm ist. Wie wirst du reagieren?

Wie reagiert Esther? Bis hierhin, während sie wie eine Perserin lebte, wurde sie von ihren Umständen kontrolliert. Passiv ließ sie sich treiben und wählte irgendwie immer den Weg des geringsten Widerstands. Aber jetzt geht es so nicht weiter. Die Verse 15-16 verraten uns, dass sie sich dafür entscheidet, sich zu ihrer jüdischen Herkunft zu bekennen und sich für ihre Leute und für sich selbst einzusetzen. Sie entscheidet sich dafür, zum König zu gehen. Das ganze jüdische Volk soll vorher drei Tage fasten, und auch sie würde das gemeinsam mit ihren Mägden machen. Menschlich gesehen ist diese Entscheidung wahrscheinlich eher weniger weise, denn Ahasveros mag gesund ernährte Mädchen (Esther 2, 9) und drei Tage Fasten würden dem Aussehen von Esther wahrscheinlich nicht guttun. Und ihr Anblick würde wahrscheinlich den Faktor ausmachen, ob der König ihr sein Zepter entgegenstreckt oder nicht.

Okay, menschlich also vielleicht nicht die sinnvollste Taktik. Und wie sieht’s geistlich aus? Esther, ihre Mägde, Mordechai, das restliche Volk sollten fasten, drei Tage und drei Nächte lang nichts essen oder trinken. Aber – fehlt da nicht was? Vielleicht lesen wir den Text und füllen in unserem Kopf das Gebet mit ein. Aber davon steht da nichts explizit. Es scheint so, als ob hier gefastet wird – aber nicht gebetet. Das passt irgendwie nicht, oder? Was erhofft sich Esther hierdurch? Augustinus schreibt über das Fasten: „Fasten hat zwei Flügel: Gebet und Almosengeben, ohne die es sich nicht bewegen kann.“ Fasten ohne Gebet ist nichts als Ritual. Fasten ohne Gebet ist wieder nur das Vertrauen auf eigene Kraft, das Erreichen von Etwas durch körperliche Anstrengung. Irgendwie scheint es doch so, dass die Juden weit weg von zuhause so sehr eingenommen waren durch die Kultur um sie herum, dass die Beziehung zu Gott gelitten hat. Man erinnert sich vielleicht daran, auf welche Art und Weise die Eltern in der Heimat gebetet haben, dass sie gefastet haben, wenn sie ein wichtiges Anliegen vor Gott gebracht haben. Und nun wirkt es so, als würden die Juden in Susa sehr großen Wert auf das Äußere beim Beten legen und als wäre die persönliche Beziehung zu Gott schwach.

Aus dem Text wird nicht eindeutig klar, ob das Gebet tatsächlich gefehlt hat oder dem Schreiber bewusst war, dass seine Leser Fasten ohne Beten niemals erwarten würden und er es deswegen nicht explizit dazugeschrieben hat. Egal ob die Juden damals dabei gebetet haben oder nicht – die Gefahr bei uns heute ist sehr real: Wie oft tendieren wir dazu, zwar eine gutaussehende religiöse Fassade nach außen hin zu leben, aber die Beziehung mit Gott schleifen zu lassen? Wenn wir beten, wovon erhoffen wir uns Hilfe? Vom Gebet oder von dem, zu dem wir beten? Wie häufig stehen wir heute in der Gefahr, Gott beweisen zu wollen, wie ernst wir es bei bestimmten Dingen meinen? Wie oft sind wir darauf bedacht, uns anderen Christen gegenüber als echt und reif zu präsentieren, sind dabei aber nur getünchte Gräber?

Wie viel Tiefe hat unser „Coming Out“, wenn es eher um einen oberflächlichen Unterschied geht als um tief veränderte Überzeugungen, die aus einer tiefen und innigen Beziehung mit Gott kommen?

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