Esther

Widerstand

10. November 2021

Das Buch Esther beschäftigt sich mit Sicherheit mehr als jedes andere mit der Frage, was unsere Identität als “Fremdlinge” (1. Petrus 1,1) in einer Welt ist, die unseren Glauben nicht teilt. In diesem und kommenden Beiträgen möchte ich einige Gedanken aus unserer Esther-Freizeit teilen, die wir als Bibelgemeinde Bayreuth veranstaltet haben.

Nach diesen Begebenheiten erhob der König Ahasveros Haman, den Sohn Hamedatas, den Agagiter, zu höherer Macht und Würde und setzte ihn über alle Fürsten, die bei ihm waren. Und alle Knechte des Königs, die im Tor des Königs waren, beugten die Knie und fielen vor Haman nieder; denn der König hatte es so geboten. Aber Mordechai beugte die Knie nicht und fiel nicht nieder. Da sprachen die Knechte des Königs, die im Tor des Königs waren, zu Mordechai: Warum übertrittst du das Gebot des Königs?
Und es geschah, als sie dies täglich zu ihm sagten und er ihnen nicht gehorchte, sagten sie es Haman, um zu sehen, ob man Mordechais Begründung gelten lassen würde; denn er hatte ihnen gesagt, dass er ein Jude sei.
(Esther 3, 1-4).

Die Theologen unserer Zeit sind sich bis heute nicht zweifelsfrei einig, warum Mordechai nicht bereit ist, sein Knie vor Haman zu beugen. Einige sagen, dass er aufgrund seines Glaubens keinem anderen als Gott die Ehre geben wollte, andere argumentieren, dass der Heide Haman götzenbildnerische Symbole an seinen Gewändern trug. Wieder andere sagen, dass Mordechai einfach zu arrogant war oder eifersüchtig auf Haman (scheinbar hatte er die Ehre bekommen, die Mordechai zustand, nachdem er einen Mordanschlag auf den König vereitelt hatte; Esther 2, 19-23). Der Text bzw. das ganze Buch lässt aber keine der Interpretationen wirklich zu bzw. unterstützt keine davon. Mordechai war bereit, sich an anderer Stelle dem Willen des Königs zu unterwerfen, insbesondere wehrte er sich nicht, als Esther zu einem moralisch höchst fragwürdigen Schönheitswettbewerb mitgenommen wurde, der das Leben der jungen Mädchen unausweichlich ruinierte, sondern gab ihr den Befehl, ihre Identität als Jüdin für sich zu behalten; seine gehorsame Pflegetochter wirft sich später in Kapitel 8 vor die Füße des Königs, das scheint also kein Problem in der Familie gewesen zu sein. Nirgends wird uns Mordechai als arrogant vorgestellt, es scheint ihn auch nicht über die Maßen verletzt zu haben, nicht für seine heldenhafte Tat geehrt worden zu sein. Wir werden später auch noch sehen, dass das Weltreich Persien religiös ein sehr toleranter Staat war, weswegen sich die Juden offenbar auch recht wohl dort gefühlt haben – schließlich war es seit etwa 50 Jahren erlaubt, nach Jerusalem zurückzukehren – und haben nie wirklich das Gefühl gehabt, wegen ihres Glaubens Widerstand leisten zu müssen.

Die einzig wirklich vom Text getragene Interpretation ist eine sehr persönliche und individuelle. In der hebräischen Erzählweise wird beim Vorstellen eines Charakters immer ein wichtiges Merkmal aufgeschrieben, das dabei hilft, den weiteren Verlauf der Geschichte besser zu verstehen. Wir haben einen Hinweis auf die Abstammungslinie beider Männer, Mordechai und Haman. Mordechai wird nicht als weiser Mann oder als ein Offizieller vorgestellt, sondern als Jude, der aus dem Stamm Benjamin kommt (Esther 2, 5). Haman wird auch nicht konkret mit seinen Eigenschaften beschrieben, die ihn so hoch auf der Karriereleiter gebracht haben, sondern einfach als Agagiter bezeichnet, er scheint also ein Nachfahre des amalekitischen Königs Agag gewesen zu sein. Und wenn wir eine lange Zeit in der biblischen Geschichte zurückreisen, dann werden wir in 1. Samuel 15 eine spannende und aufschlussreiche Geschichte lesen. Gott hatte dem König Saul aufgetragen, kompromisslos das ganze Volk der Amalekiter auszulöschen, inklusive aller Menschen, Tiere und vor allem des Königs. Die Amalekiter hatten bei der Reise der Israeliten aus Ägypten ins gelobte Land das sehr dubiose Ziel gehabt, die ersten zu sein, die den Bund zwischen Gott und den Israeliten zerstören. Aber Saul hatte Tiere und den König Agag am Leben gelassen, mit der fadenscheinigen Begründung, er wolle Gott Opfer darbringen. Aber Gehorsam war Gott schon immer wichtiger als Opfer. Über die Jahrhunderte hatte sich der Begriff „Agagiter“ oder „Amalekiter“ als Bezeichnung für die Feinde der Juden herausgestellt, für diejenigen, die ihren Gott hassten und das Volk auslöschen wollten. Sogar heutzutage ist das gebräuchlich; die New York Times berichtete in den 90er Jahren von einer Gruppierung militanter Juden, die die Araber als „Amalekiter“ bezeichneten. Letztendlich ist es nicht entscheidend, ob Haman tatsächlich vom König Agag abstammte oder der Begriff nur für ihn verwendet wird, weil er Judenhasser war (so oder so wissen wir, wie er zu ihnen steht und was sein Ziel mit den Juden war) – entscheidend ist, dass sich Mordechai deswegen nicht vor ihm beugt. Es hätte in beiden Fällen bedeutet, dass er sich scheinbar vor einem Mann beugt, der aufgrund der Familiengeschichte immer noch einen sehr negativen Beigeschmack hatte.

Wenn wir genau hinsehen, werden wir beobachten, dass es sich hier letztendlich nicht um einen Glaubensakt handelt. Was Mordechai tat, war kein Widerstand, den man aufgrund seines Glaubens machen musste. So wie die Erzählung von Esther aufgebaut ist, werden wir immer wieder dazu eingeladen, mit der Geschichte aus dem Buch Daniel zu vergleichen. In beiden Fällen wurde den jungen Juden Essen und Trinken am Hof des Königs angeboten und wir sehen, wie unterschiedlich die Reaktionen von Daniel und seinen Freunden und der jungen Königin Esther sind. Und an dieser Stelle müssen wir sofort daran denken, wie die drei Freunde Sadrach, Mesach und Abed-Nego aufgefordert wurden, ein Götzenbild anzubeten. Sie weigerten sich und es war die einzige Möglichkeit. Hier keinen Widerstand zu leisten, hätte bedeutet, Gott zu verleugnen und es war ihnen lieber, verbrannt zu werden als das zu tun. Aber hier – so gerechtfertigt der Widerstand Mordechais vielleicht war – im Vergleich dazu wirkt er viel eher wie eine untergeordnete, zweitrangige Angelegenheit. Da gab es kein Schwarz und Weiß, sondern nur Grau. Wenn wir überlegen, wie angepasst er eigentlich lebte, verwundert es uns sehr, dass er dafür aufsteht. Wie viele Kompromisse er schon gemacht hat! Er fällt sonst überhaupt nicht wie ein sturer Verteidiger seines Glaubens auf. Er hat im Prinzip keinerlei Probleme damit gezeigt, was mit Esther passiert (womöglich sogar einen Vorteil darin gesehen, ich werde in Kapitel 2 darauf zu sprechen kommen), und in den Harem eines gottlosen Königs zu gelangen ist mit Sicherheit eine Angelegenheit, zu der der jüdische Glaube etwas zu sagen hatte. Er war nicht wie Daniel oder seine Freunde, im Stillen war er eigentlich angepasst. Aber diese persönliche Angelegenheit bringt ihn jetzt dazu, sein Leben zu riskieren und das Leben – wie er noch nicht weiß – seines ganzen Volkes.

Und ich habe mich gefragt, ob es besonders in unserem Leben und in unseren Gemeinden nicht oft genauso aussieht. Allzu häufig sind wir wie die Pharisäer, zu denen Jesus in Matthäus 23 sagt, dass sie Mücken aussieben, dafür aber Kamele verschlucken. Wie häufig sind wir bereit, mit anderen Christen über zweitrangige Fragen zu streiten, in uns selbst aber Kamel-große Sünden zu tolerieren. Es ist nicht falsch, sich Haman oder den Mücken zu widersetzen, wenn die Prioritäten richtig gesetzt sind. Weiterhin sehen wir, dass Sünden ganz oft Konsequenzen haben, die erst viel später sichtbar werden. Wir haben das Bild eines Alkoholikers mit einer ausufernden Leberzirrhose vor Augen, sehen aber auch, dass scheinbar viel weniger schlimme und unsichtbare Sünden, augenscheinlich kleine Ungehorsamkeiten Gott gegenüber, furchtbare Konsequenzen weit später nach sich ziehen können. Möge uns das noch einmal das Problem von Toleranz von Sünde in unserem Leben deutlich machen.

Wenn wir Widerstand leisten, müssen wir bereit sein, dass er tatsächlich Konsequenzen hat. So schwer wie seine Eitelkeit verletzt worden war, war es für Haman nicht genug, nur Mordechai aus dem Weg zu schaffen. Der Agagiter wollte das gesamte Volk der Juden auslöschen (siehe Esther 3, 5-6).

Nachdem er per Loswurf ein passendes Datum für seinen Völkermorde gefunden hatte, brauchte er aber zur Ausführung noch die Zustimmung des Königs (Esther 3, 5-11). Die Frage stellt sich, warum Ahasveros kein Problem mit einem so schrecklichen Vorhaben hatte. Warum lässt er das zu? Was für ein König würde es okay finden, wenn Menschen aus seinem Reich einfach so getötet werden? Zwei Dinge: ihm war es schlichtweg egal. Es interessierte ihn nicht. Er wollte nicht einmal nachfragen, um welche Leute es sich handelte. Er war wohlbehütet, von Frauen und Wein umgeben in seinem sicheren und schönen Palast und wenn ihm ein wichtiger Mensch etwas sagte, war er einverstanden. Er dachte nicht nach, als Mordechai ihm das Leben rettete. Eine Ehrung wäre das Mindeste gewesen, aber es war ihm schlichtweg egal. Und zweitens ist es ein Muster im Buch Esther, dass man dem König sagte, was für ihn am besten war. Schon in Kapitel 1 ist das deutlich geworden, als seine Berater ihm sagen mussten, welches Vorgehen als Reaktion auf den Widerstand Vastis am sinnvollsten war, und auch hier macht er es sich ziemlich bequem.

Und so wird im Speisesaal des mächtigsten Mannes der Welt gemeinsam mit dem zweitmächtigsten ein Todesurteil über ein ganzes Volk ausgesprochen. Das königliche Postsystem verschickt das Urteil in die entferntesten Winkel der Erde. In Vers 15 sind Juden wie Nichtjuden bestürzt darüber, was passiert. In dieser makabren und surrealen Szene schwingt so ein bisschen die Frage mit, die uns im gesamten Buch begleitet: „Wo ist Gott bei der ganzen Sache? Warum lässt er das alles zu? Hat er nicht versprochen, sein Volk zu bewahren? Gilt das hier im Exil nicht mehr?“ Fragen über Fragen. Ich möchte zwei Dinge aus Kapitel 3 mitnehmen.

Erstens: Wir alle glauben gerne daran, dass wir unser Leben mit guter Planung und vorausschauendem Denken in den eigenen Händen haben. Und bis zu einem gewissen Grad klappt das auch ganz gut. Und trotzdem finden wir uns regelmäßig in Situationen wieder, die außerhalb unserer Kontrolle liegen. Dieses Muster sehen wir im Buch Esther ständig: Das junge Mädchen wird unfreiwillig an den Hof des Königs gebracht, wo sie monatelang auf eine einzige Nacht mit Ahasveros vorbereitet wird, nur um dann ein sinnfreies (außer, Gott hätte einen Plan mit ihr!) Dasein als eine der vielen Frauen in seinem Harem zu fristen. Sie sieht ihren Ehemann ewig nicht. Und keiner fragt danach, was ihr Plan war. Keiner fragt danach, ob sie sich eine andere Beziehung gewünscht hat, mit einem liebevollen Ehemann und tollen Kindern. Keiner fragt Mordechai, was er sich als Belohnung für seine heldenhafte Rettungstat wünscht. Stattdessen wird ein anderer in eine mächtige Position erhoben und sein ganzes Volk zum Tode verurteilt. Es tut weh, wenn unsere Pläne nicht aufgehen und sich scheinbar alles sogar noch zum Bösen wendet. Aber wir dürfen wissen: Gottes Wirken ist so oft klein und unsichtbar. Aus der Kette der schlimmsten Erfahrungen in unserem Leben macht er ein nicht enden wollendes Festmahl, das erst später kommt. Wir sehen es meist nicht, aber Gott benutzt selbst Ungerechtigkeit, Krankheit und Tod, um seine Versprechen an uns wirksam zu machen. In der Apostelgeschichte viele hunderte Jahre später erzählt Petrus, dass durch die Bosheit der Menschen, die Jesus Christus ans Kreuz gebracht haben, Gott seinen Plan vollführt hat. Herodes, Pilatus, die ganzen Juden und Heiden haben in ihrem eigenen, sündigen Interesse gehandelt, so wie Haman hier, aber es ist niemals etwas passiert, das Gott nicht genauso gewollt hätte. Es ist paradox und für uns oft unverständlich, aber der Satan wollte Jesus tot sehen, und als er seinen Wunsch erfüllt gesehen hat, war gleichzeitig seine Niederlage besiegelt und das größte Werk der Gnade und Liebe vollbracht.

Zweitens: Es gibt einen König, der unendlich viel größer ist als Ahasveros es je war, und ein Volk, das zerstreut unter allen Völkern lebt und tatsächlich die Gebote dieses Königs nicht befolgt (Esther 3, 8). Und tatsächlich sollte er sie nicht gewähren lassen. Tatsächlich wäre es der einzig logische Schluss, ein Todesurteil über sie zu sprechen und sie alle an einem Tag auszurotten. Der Haman in dieser Geschichte ist Satan, der diese Anklage zurecht vor den König bringt. Dieser König ist Gott. Und dieses Volk sind wir. Ist es nicht großartig zu wissen, dass unser König so anders ist? Er hat dem Satan auch seinen Siegelring gegeben und ihm erlaubt, alles zu tun was er will, aber nicht mit uns, sondern er hat gesagt: „Satan, geh und tu mit meinem Sohn, was dir gefällt. Zerstöre ihn, lass ihn auspeitschen, nagle ihn an ein Kreuz, strafe ihn für Sünden, die nicht er, sondern das Volk getan haben – nimm seine Kleider und lass sie unter dem Kreuz teilen. Aber mein Volk darfst du nicht berühren.“ Und dabei wurde der Tod ultimativ besiegt. Das verdiente Todesurteil hat keine Macht mehr über uns. Ist das nicht ein König, dem wir uns völlig unterwerfen sollten? In dem wir, obwohl wir noch hier sind, zerstreut unter alle Völker, unsere absolute Identität und Ruhe finden sollten? Dem wir als seine Bürger treu sein sollten, auch wenn es nicht immer einfach ist?

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