Book Reviews

“Gemeinde wiederentdecken” von Collin Hansen und Jonathan Leeman

3. September 2021

Hier kannst du das Buch beim Betanien-Verlag kaufen.

Eines der Dinge, die ich in der Zeit der Pandemie ganz neu gelernt habe, ist mit Sicherheit die Bedeutung von Gemeinde und Gottesdiensten vor Ort. Es stimmt, auch unsere Gemeinde ist zunächst notgedrungen auf den Livestream-Zug aufgesprungen und nun genießen wir und Gemeindemitglieder, die aufgrund von Krankheit oder Reisen nicht persönlich teilnehmen können, die Vorzüge der Technologie. Aber Gemeinde, die die Schönheit ihres Designs und die Wichtigkeit ihres Wesens, das die Bibel zeichnet und beschreibt, vergisst und zu einem bloßen YouTube-Kanal verkommt, kann und wird keine Frucht bringen. Häufig kommen Menschen “wegen der Viren” oder “wegen der Masken- und Anmeldungspflicht” nicht, jedoch wird schnell klar, dass andere Gründe vorliegen, nicht mehr frühmorgens zum Gottesdienst zu fahren, und die Pandemie nur eine wunderbare Möglichkeit der Ausrede darstellt, die zudem nicht großartig erklärt werden muss.

Collin Hansen und Jonathan Leeman versuchen daher in ihrem neuen Buch, kurz und prägnant darzustellen, was Gemeinde überhaupt ist, wer und was sie ausmacht und welche unumgängliche und unsersetzliche Bedeutung sie im Leben eines jeden Christen mit sich bringt. Dazu liefern sie eine, zugegebenermaßen schwer sprechende und einprägsame, jedoch exakte Definition, deren einzelne Punkte sie in den neun Kapiteln erklären. Ich möchte sie an dieser Stelle zitieren: “Gemeinde ist eine Gruppe von Christen (Kapitel 2), die als irdische Botschaft (Vertretung) des himmlischen Königreichs Christi zusammenkommt (Kapitel 3), um die gute Nachricht und die Gebote des Königs Jesus zu verkünden (Kapitel 4); um einander durch Taufe und Abendmahl als dessen Bürger zu bestätigen (Kapitel 5); und um Gottes Heiligkeit und Liebe darzustellen (Kapitel 6) durch ein vereintes und vielfältiges Volk (Kapitel 7) auf der ganzen Welt (Kapitel 8), indem sie der Lehre und dem Vorbild ihrer Ältesten folgen (Kapitel 9)”. Puh. Aber ich kann das nachvollziehen, wer von Paulus lernt, wird auch gerne Bandwurmsätze imitieren. Dann kann man sie schön analysieren und grammatikalisch auseinandernehmen. Oder ein Buch darüber schreiben, wie Hansen und Leeman.

Zunächst einmal ist es den Autoren wichtig, klarzustellen, wer Teil der Gemeinde ist. Sowohl die universelle, weltweite Gemeinde als auch die Ortsgemeinde setzen sich aus Menschen zusammen, die Wiedergeburt erfahren haben und sich als Mitglieder zu ihr bekennen. Wer die Liebe und Vergebung Gottes nicht selbst erfahren hat, auf den wirkt Gemeinde mit Sicherheit als eine krude Selbsthilfeversammlung, die sich zu langweiligen Treffen zusammenfindet, an denen aus einem verstaubten Buch gelesen wird. Wer durch das Erlösungswerk von Jesus in den Leib Christ aufgenommen wird, der wird unweigerlich die Schönheit von Gemeinde mit verwandeltem Herzen sehen, gar nicht anders können, als sie zu besuchen und sich darauf freuen, “mit anderen Gläubigen zusammenzukommen und Jesus anzubeten” (p. 37). Diese Gruppe von Christen kommt schließlich zusammen. Es ist biblische und damit unausweichliche Realität, dass Gemeinde als Leib geschaffen wurde, in dem sich die miteinander verbundenen Glieder gegenseitig zu Liebe und guten Werken anspornen (Hebräer 10, 24). Online-Versammlungen können nicht ersetzen, was in Gottesdiensten vor Ort passiert: Ermutigung im Gespräch am Ausgang, Liebe und Vergebung gegenüber der Person, der ich im Internet aus dem Weg gehen könnte, gegenseitiges Prüfen und Verantworten vor den Brüdern und Schwestern. Es zeigt sich, dass Gemeinde bei weitem mehr ist als ein bloßer Informationsaustausch. Leeman-typisch umschreibt er die Gemeinde als Botschaft, die in einem anderen Land als ihrer Heimat befindlich ist und in der die Menschen sich gegenseitig die Zugehörigkeit zu jener attestieren, die gleichzeitig jedoch nur ein unvollkommenes Abbild desjeniges Ortes darstellt, den sie repäsentiert. In Predigt und Lehre hört die Gemeinde gemeinsam Gottes Wort, das dort Platz findet, seine Kraft entfalten und reichlich Frucht bringen kann. Die Mitglieder antworten in Gebet und Gesang gemeinsam auf die Verkündigung, lernen, wie sie selbst die Bibel lesen und verstehen können und vermitteln die geistlichen Wahrheiten wiederum anderen Geschwistern. Geben und Nehmen, lehren und lernen gleichzeitig. Collin Hansen betont, dass der beste Prediger für ein jedes Gemeindemitglied nicht der charismatische und erstklassige Pastor einer Megachurch ist, dessen Predigten auf Abruf bei Spotify verfügbar sind, sondern derjenige, der neben der treuen Wortverkündigung bereit ist, sich mit ihm auf einen Kaffee zu treffen und dem es persönlich Fragen zu harten Bibelworten stellen kann. Warum die Mitgliedschaft so wichtig ist, erklärt Leeman insbesondere daran, dass eine der wichtigsten Aufgaben der Gemeinde darin besteht, dass sich ihre Mitglieder gegenseitig das Bürgertum im Himmelreich bestätigen können. Auch Jesus zeigt Petrus in Matthäus 16 schon, dass Gemeinden Autorität haben. Durch Taufe und Abendmahl zeigt sich diese Bestätigung konkret. Durch eine verbindliche Mitgliedschaft ín der Ortsgemeinde zeigen sich Unterordnung unter Leitung und Geschwister und gegenseitige Rechenschaftspflicht. Gleichermaßen muss dann, wenn kein Zeugnis mehr über die Zugehörigkeit eines Einzelnen zum Leib abgelegt werden kann, Gemeindezucht erfolgen. Was sich in unseren Ohren hart anhört, ist für Leeman ein Akt der Liebe, mit dem Umkehr hervorgerufen werden soll. Die Gesellschaft definiert Liebe häufig als etwas, das über allem steht und mit dem alles rechtfertigt werden kann, selbst wenn dazu Gesetze krude verbogen werden müssen. Im Kontext der Bibel bedeutet Liebe jedoch nicht Selbstverwirklichung, sondern Freude an der Wahrheit (1. Korinther 13, 6 und 2. Johannes 1-3). Daher soll Gemeindezucht ausdrücken, dass ein vom Weg abgewichenes Mitglied zur einzigen Quelle der Liebe zurückkehren soll: zu Gott selbst. Ein wichtiges Merkmal von Gemeinde ist die Liebe zu Menschen, die anders sind als ich. Häufig empfinden wir jedoch genau anders: wir suchen uns homogene Gruppen, in denen jeder die gleiche Vorstellung von Politik und Kleidung hat wie wir selbst. Oder wir betonen die Verschiedenheit über und erschaudern, wenn in einem Hauskreis mal nur Personen mit der gleichen Hautfarbe anwesend sind. Beide Extrema verfehlen jedoch das biblische Bild von Gemeinde und versuchen, “Gemeinschaft durch Ausgrenzung” (p. 100) zu erreichen. In den Versammlungen der ersten Christen war das total anders: das Christentum brachte Menschen zusammen, die so gar nichts miteinander zu tun hatten, die aber durch das Band des Friedens und in der Einheit des Geistes zusammenhielten und ihre Unterschiede feierten (Epheser 4, 1-6; 2. Korinther 12, 24-26). Über den Zweck von Gemeinde herrschen oft unterschiedliche Ansichten. Man findet schnell Versammlungen, die einen der Aspekte überbetonen, sich beispielsweise als Heiler von Krankheiten ansehen, als Gesellschaftstransformatoren oder Zeltevangelisten. Die Bibel ist jedoch absolut klar: in Matthäus 28, 18-20 betont Jesus das Jüngermachen, das Taufen und das Lehren der Gebote Gottes. Gemeinden, die beispielweise bei der Rettung von der Sünde stehen bleiben, die Lehre von der Heiligung aber ganz vernachlässigen, sollten sich fragen, wozu dann die Bergpredigt im Matthäusevangelium aufgeschrieben wurde. “Du brauchst die Gemeinde nicht, um wiedergeboren zu werden. Aber du brauchst die Gemeinde, um auf den wackligen Beinen deines noch jungen Glaubens zu stehen und zu gehen” (p. 113). Nur wenn die gesamte Bibel gleichermaßen gelehrt wird und Anwendung findet, können Gemeinden zu Orten der Zuflucht werden (p. 115). Die Lehre und das Vorbild der Gemeindeleitung beinhalten die wichtige Aufgabe der Ältesten, damit Gemeindeglieder ihre Aufgaben erfüllen können. Durch Online-Gottesdienste und Fernbleiben von den Veranstaltungen vor Ort wird das Vertrauen der Mitglieder zur Leitung häufig untergraben. Aber nur, wenn es besteht, kann Gottes Wort Frucht bringen.

“Du bekommst nicht die Gemeinde, die du dir wünscht, sondern die Gemeinde, die du brauchst” ist mit Sicherheit eins meiner Lieblingszitate. Wer die 9Marks/9Merkmale-Reihe gelesen hat, wird merken, dass die einzelnen Kapitel häufig Zusammenfassungen der dort erschienen Bücher darstellen und Bilder daraus verwenden. Mir persönlich hat es große Freude gemacht, das Buch zu lesen, mich dabei an selbst erlebte Situationen aus meiner Gemeinde zu erinnern und Punkte ganz neu zu entdecken. Es kommt vor, dass ich keine große Lust auf den Gottesdienst habe, es ist aber immer so, dass ich danach nicht nach Hause möchte. Gemeinde formt uns, sie fordert uns heraus, sie nickt nicht alles ab, was wir denken. Ich habe nicht zu jedem Bruder und nicht zu jeder Schwester eine innige Beziehung, aber zu jedem einzelnen Mitglied spüre ich eine tiefe Verbundenheit. Ich bin sehr dankbar, dass Gott mich dort hineingestellt hat und dass er Collin Hansen und Jonathan Leeman begeistert hat, ein großartiges, kurzes und prägnantes Buch zu schreiben, das klar herausstellt, warum die Welt und wir als Christen Gemeinde brauchen. Verbindlich, verantwortlich und herausfordernd, aber wunderschön und unersetzbar wertvoll. Es lohnt sich, Zeit und Liebe in seine Gemeinde zu investieren. Und am Sonntagnachmittag “Gemeinde wiederentdecken” zu lesen. Versprochen.

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1 Comment

  • Reply mathetes 11. September 2021 at 12:19

    Wirklich ein großartiges Buch über ein Thema, das stark unterschätzt wird. Auch wir Christen neigen heute sehr dazu, individualistisch zu denken und zu leben. Ich bin diese Woche an 2. Tim 2,22 hängen geblieben: “Jage vielmehr der Gerechtigkeit, dem Glauben, der Liebe und dem Frieden nach, gemeinsam mit allen, die den Herrn aus reinem Herzen anrufen.” Jedem Christen ist bewusst, dass wir nach Gerechtigkeit, Glauben, Liebe oder Frieden streben sollen, aber uns ist selten bewusst, dass wir dies GEMEINSAM tun sollen.

    Christian Dietrich (1844-1919) hat über die Gemeinschaft von Christen etwas sehr schönes gesagt: “Christen sind nicht wie ein Sack voll Erbsen, die, wenn dieser aufplatzt, in alle Richtungen auseinanderrollen. Christen sind vielmehr wie Wassertropfen an der Fensterscheibe: Sie fließen zusammen.”

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