Allgemein

Verwerfungslinien

11. December 2021

Das Scrollen durch soziale Medien wird von Tag zu Tag unangenehmer. Und das sage ich, der nahezu ausnahmslos erklärten evangelikalen Christen folgt und ihre Beiträge bei Twitter liest, ihre Posts bei Facebook verfolgt oder ihre Videos bei YouTube ansieht. Dabei geht es gar nicht so sehr um die Themen, die dort angesprochen werden. Ich halte Diskussionen über aktuelle Entwicklungen und den Diskurs über neue Herausforderungen für wichtig. Aber ich frage mich manchmal, ob der Ton und der Umgang dem gerecht werden, was ich in der Bibel finde und wie das alles auf Menschen wirken muss, die keine Nachfolger von Jesus sind. Was bewirken wir damit?

Zur Zeit von Jesus wurde zwar weniger über Viren und Impfpflichten diskutiert, die Themen im öffentlichen Diskurs sind aber insofern unserer heutigen Zeit nicht fremd, da man nicht zuletzt im Zuge von Koalitionsverträgen und Klimawandel-Protesten beispielsweise auch über Steuererhöhungen diskutiert hat: Ist es erlaubt, dem Kaiser die Steuer zu geben, oder nicht? (Matthäus 22, 17). Damals wie heute handelt es sich beim Gegenstand von öffentlich abgegebenen Meinungen nicht nur um rein politische Themen, sondern um Fragestellungen, die tief verflochten sind mit religiösen Überzeugungen. Heute geht es um die Freiheit, Gottesdienste ohne Eingriffe durch den Staat durchführen zu können, die Pflicht, der von Gott legitimierten Regierung, die im Begriff steht, weitergehende Maßnahmen, die uns nicht immer gefallen, einzuführen, gehorsam zu sein. Damals war die Frage, ob man als Jude Steuern an die römische Regierung zahlen sollte, nicht nur eine bloße Fangfrage an Jesus, sondern ein tatsächliches Dilemma für die Menschen: sie zu zahlen, bedeutete zum einen aus politischer Perspektive die Finanzierung der eigenen Unterdrücker. Die Kopfsteuer implizierte aus religiöser Sicht das “Besitzen” der Juden, welche sich als auserwähltes Volk jedoch als Eigentum allein Gottes betrachteten – ein Eingriff in die persönliche (Glaubens-)Freiheit in mehrfacher Hinsicht. Daher der große Druck auf Jesus, dem in Matthäus 22 vermutlich weniger Menschen live zuhörten als Pastoren heute Twitter-Follower haben. Hätte er diese Frage mit einem “Nein” beantwortet, so hätte er sich des Hochverrats Rom gegenüber schuldig gemacht. Hätte er “Ja” gesagt, so wäre er der Ansicht der Pharisäer nach dem jüdischen Glauben abtrünnig geworden und hätte mit ziemlicher Sicherheit die Gunst des Volkes verloren.

Ich habe mich gefragt, was Jesus gemeint hat, als er seinen Jüngern in Matthäus 10, 16 den Auftrag gab, klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben zu sein, als er sie wie Schafe unter die Wölfe sandte. Bedeutet das, hochentzündliches Material in Glutnester zu schütten? Bedeutet es, Konflikte zu befeuern oder neu zu entfachen? Ist Matthäus 10 nicht eine deutliche, transparente Hilfestellung für den Auftrag, das Evangelium effektiv unter die Leute zu bringen und Gottes Ziel, Menschen zu retten, voranzutreiben? Was bewirken wir damit, wenn wir dem Vorwurf, Christen wären hart und lieblos, Nährboden geben?

Und ja, mir ist bewusst, dass die Frage nach der Steuer im Falle von Jesus den spezifischen Charakter hat, eine Fangfrage gewesen zu sein, mit der man ihn in eine Falle locken und zu einer verurteilbaren Aussage zwingen wollte. Aber stehen wir nicht auch tagtäglich vor Themen, die Spaltung in der breiten Gesellschaft hervorrufen oder an denen sich zumindest einzelne Lager innerhalb des christlichen Glaubens zu scheiden scheinen? Und geht hier bei uns nicht oft an der Rechthaberei die Liebe verloren? An biblischer Wahrheit festzuhalten ist essentiell und alternativlos. Aber verlässt Jesus mit seiner Antwort So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!, die keins der beiden Pole zum Schreien bringt, biblische Wahrheit? Keinesfalls! Sie ist voll von Wahrheit, aber gleichzeitig von Liebe. Sie hetzt nicht, sie ist langmütig und gütig, sie ist nicht unanständig, sie bläht sich nicht auf, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich an der Wahrheit. Ist diese Antwort von Jesus nicht die personifizierte Liebe, die 1. Korinther 13 besingt? Und wenn ich Weissagung hätte und alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis, und wenn ich allen Glauben besäße, sodass ich Berge versetzte, aber keine Liebe hätte, so wäre ich nichts. (1. Korinther 13, 2).

Eine andere Übersetzung von ohne Falsch (Matthäus 10, 16) erlaubt es, das Wort als “unschuldig”, “harmlos”, “unschädlich” oder “nicht destruktiv” wiederzugeben (siehe Strong’s zu ἀκέραιος – akeraios). Sind das Eigenschaften, die uns beschreiben, wenn wir (einzelne) Politiker als Narren bezeichnen und den vorhandenen Keil noch tiefer in die Gesellschaft treiben? Sind das Qualitäten, die uns Christen wie Ungläubige attestieren würden, wenn wir hart sind, ohne Pause auf die Fehler anderer Menschen hinweisen, derer wir selbst reichlich besitzen und den verurteilen, der in Ausnahmezeiten unter höherem Druck denn je steht? Sind wir so, wie Jesus es uns aufträgt, wenn wir am lautesten schreien, derweil wir als Gemeinden und Kirchen diejenigen sind, die gerade relativ gesehen die größten Freiheiten unser Eigen nennen dürfen?

Ich spreche mich unter keinen Umständen von Schuld frei, ganz im Gegenteil. Das Lesen besonders der Evangelien und der Reaktion von Jesus auf das brodelnde Spannungsfeld Israels im 1. Jahrhundert überführt mich. Ohne jede Frage hat er Götzendienst, Unzucht und Lästerung scharf verurteilt. Nur ein Kapitel vor der Steuerfrage trieb er Geldwechsler und Taubenverkäufer aus dem Haus Gottes (Matthäus 21, 12-17). Ich frage mich, was er mit mir machen würde, der ich schon oft die Heiligkeit der Gemeinde verunglimpft habe. Das Gericht hierüber hatte seinen Platz in Jesu Leben, war Teil seines Auftrags und es wurde als Aufforderung an die Gemeinde weitergegeben, im Inneren Gemeindezucht zu betreiben, wo sie nötig wird. Nur einen Vers später wird Jesus mit der nächsten Frage konfrontiert: An jenem Tag traten Sadduzäer zu ihm, die sagen, es gebe keine Auferstehung, und sie fragten ihn… (Matthäus 10, 23). Jesus demoliert die Sadduzäer nicht, macht jedoch sanftmütig und zugleich bestimmt klar, dass sie irren (V. 29), weil er sie auf ihre Fehler hinweisen und zur Umkehr bringen und nicht einen Keil in die Menschen treiben will. Und als die Menge dies hörte, erstaunte sie über seine Lehre. (V. 33)

Die Bibel ist deutlich und sagt, dass Jesus für viele zum Stein des Anstoßes und zum Fels des Strauchelns (Jesaja 8, 14) wurde. Er sagt über sich selbst, dass er nicht gekommen [ist], Frieden zu bringen, sondern das Schwert (Matthäus 10, 34). Seine Botschaft war nicht immer angenehm. An ihr trennt sich die Spreu vom Weizen. Aber können wir nicht unendlich viel von Jesus lernen, der auf religiös-politisch-verwobene Fragestellungen Liebe-Wahrheit-verwoben antwortete? Ich für meinen Teil durfte und darf sehr viel lernen, auf meine Zunge zu achten (Jakobus 3, 1-12). Gleichzeitig werde ich weniger auf sozialen Medien unterwegs sein und die gewonnene Zeit investieren, mehr davon zu lesen, wie Jesus ist und wie ich ihm nachahmen kann.

You Might Also Like

1 Comment

  • Reply Matthias Lohmann 23. December 2021 at 8:43

    Amen!

  • Leave a Reply to Matthias Lohmann Cancel Reply

    Send this to a friend